
Die Sonne scheint in den Innenhof der Alten Synagoge. Sie gehört zu den jüdisch-mittelalterlichen Stätten Erfurts. Foto: Martin Schutt/dpa/dpa-tmn
Unesco-Welterbe Jüdisches Leben in Erfurt gestern und heute - ein Rundgang
«Rosita Peterseim und ihre Kollegen vom Denkmalamt mussten sich von einem Gerüst zwischen zwei Mauern abseilen, um die Wand der Alten Synagoge ansehen zu können», sagt Stephan Oettel, Historiker und Gästeführer und Koordinator im Netzwerk «Jüdisches Leben Erfurt». Denn die Synagoge war völlig ein- und umgebaut und wurde 1988 als Gaststätte genutzt. Wie es dazu kam?
Die Geschichte beginnt im 11. Jahrhundert. Erfurt ist eine florierende Stadt, gelegen an wichtigen Handelsstraßen. Christen und Juden wohnen in direkter Nachbarschaft, wie aus dem historischen Steuerregister hervorgeht. Juden sind Christen auch rechtlich gleichgestellt. Die jüdische Gemeinde baut sich eine Synagoge mitten in der Stadt.
Als im 14. Jahrhundert die Pest Mitteleuropa heimsucht, werden auch in Erfurt Schuldige für die Seuche gesucht. Juden sollen die Brunnen vergiftet haben. «Jedem muss klar gewesen sein, dass das nicht stimmen kann. Schließlich holten Juden ihr Wasser an den gleichen Brunnen wie Christen», sagt Oettel.
1349 wird jüdisches Leben in Erfurt in einem Pogrom ausgelöscht. «Da hatte die Pest Erfurt noch gar nicht erreicht», so der Historiker. Aus der Synagoge wird ein Speicher. In den folgenden Jahrhunderten verschwindet das Bauwerk komplett hinter anderen Gebäuden.
Durch Toilettenfenster zur Synagoge
Erst 1988 sucht Rosita Peterseim anlässlich des 50. Jahrestages der Pogromnacht nach Spuren jüdischen Lebens in Erfurt. Sie geht Hinweisen nach, wo die Alte Synagoge gestanden haben könnte. An einer möglichen Stelle befindet sich eine Gaststätte. Peterseim inspiziert diese genau. Als sie durch das Fenster der Herrentoilette in einen kleinen Gang klettert, entdeckt sie die Türgewänder der Synagoge und unterm Dach ein Stück einer Fensterrosette.
Das Gebäude um die Synagoge befand sich in Privatbesitz. Als es veräußert werden sollte, konnte Peterseim den Stadtrat überzeugen, von seinem Vorkaufsrecht Gebrauch zu machen.
Ein Glücksfall, so sieht es auch die Unesco, die das Jüdisch-Mittelalterliche Erbe in Erfurt 2023 als Welterbestätte auszeichnete. Denn die Alte Synagoge, die Mikwe - ein Ritualbad - und das Steinerne Haus in Erfurt zeichneten ein einzigartig umfassendes Bild jüdischen Lebens im Mittelalter in Deutschland - mit seinen Höhen und Tiefen. Vervollständigt wird dieses durch historische Handschriften, Grabsteine und den Erfurter Schatz.
Die Alte Synagoge ist heute freigelegt. Sie gilt laut Unesco als älteste erhaltene Synagoge Europas und dient als Museum. Im ersten Stock ist die Empore aus dem 19. Jahrhundert zu sehen. Damals wurde der Raum als Tanzsaal genutzt. Darin ausgestellt sind Faksimile spätmittelalterlicher jüdischer Handschriften aus Erfurt. Im Erdgeschoss zeigt unter anderem ein interaktives Modell der Altstadt, wo Christen und Juden im Verlauf der Jahrhunderte wohnten.
Haushalte von Juden und Christen unterschieden sich kaum
Den Erfurter Schatz beherbergt das Kellergewölbe - fast 30 Kilogramm Gold und Silber, mehr als 600 Schmuckstücke und über 3.100 Silbermünzen. Ein Baggerfahrer stieß 1998 zufällig auf einige Becher. Er übergab sie dem zuständigen Archäologen, der weitersuchte und viel mehr entdeckte.
Ein aufwendiger Hochzeitsring mit der Inschrift «Masal Tov» zeigt, dass der Schatz Juden gehört haben muss. Nachforschungen ergaben, dass es sich um den Besitz des jüdischen Bankiers Kalman von Wiehe handelt.
Vermutlich hat von Wiehe ihn kurz vor dem Pogrom von 1349 in seinem Kellerversteck deponiert. Die Schmuckstücke, das Tafelgeschirr und die Broschen geben Einblick in den Haushalt einer wohlhabenden Familie und zeigen, dass sich diese bei Juden und Christen im Mittelalter kaum unterschieden.
Das belegt auch das Steinerne Haus neben der Tourismuszentrale in der Erfurter Altstadt. Es ist eines der wenigen erhaltenen Wohnhäuser aus dem Spätmittelalter. Dass es Juden gehörte, ist einzig aus alten Steuerlisten ersichtlich, nicht anhand der Architektur. Aktuell kann das Innere des Hauses nur in Privatführungen besichtigt werden, aber ein Bild in einem Fensterbogen an der Fassade zeigt die mit Blumen bemalte Decke eines seit dem Mittelalter erhaltenen Innenraumes.
Einzigartiges Ritualbad
Neben der Alten Synagoge und dem Steinernen Haus gehört die Mikwe zum Unesco-Welterbe. Laut der UN-Organisation ist sie in ihrem Bautyp weltweit einzigartig. Der Eingang zu dem Ritualbad aus dem 12. und 13. Jahrhundert liegt direkt an der Gera neben der Krämerbrücke. Als 2007 die Grünflächen am Fluss neugestaltet werden sollten, untersuchten Landesarchäologen das Gelände. Denn es war bekannt, dass dort irgendwo eine Mikwe sein könnte.
Am letzten Tag vor Baubeginn entdeckten sie in einem der untersuchten Keller Kragsteine, die normalerweise an Fassaden als Stützen dienen. Die oft verzierten Kragsteine im Keller ergeben keinen Sinn. Weil das Gebäude zudem bis zum Grundwasserspiegel reichte, war klar, dass es kein gewöhnlicher Keller, sondern die Mikwe war. Heute können der Vorraum und das tiefer gelegene Wasserbecken bei Führungen besichtigt werden.
Endete mit dem Mittelalter jüdisches Leben in Erfurt? Keineswegs! Im Zuge von Napoleons Code Civil kehrten Juden im 19. Jahrhundert in die Stadt zurück. 1840 erbauten sie die Kleine Synagoge. Und die Gemeinde wuchs und eine größere mit Platz für 500 Gläubige wurde errichtet. Diese wurde in der Pogromnacht 1938 zerstört.
Einziger Synagogenneubau der DDR
Die Kleine Synagoge jedoch blieb unversehrt - wohl auch, weil sie als Lagergebäude und später als Wohnhaus genutzt wurde. Sogar der Thora-Schrein wurde hinter einer Wandvertäfelung entdeckt. Heute befindet sich in der Kleinen Synagoge eine interkulturelle Begegnungsstätte. Zudem gibt eine Ausstellung Einblick in jüdisches Leben im 19. und 20. Jahrhundert.
Nach dem Ende des Nationalsozialismus kamen vertriebene Juden vor allem aus Polen nach Erfurt, wie Prof. Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, sagt. Sehr engagiert bauten sie neues Gemeindeleben auf. 1952 wurde die Neue Synagoge eingeweiht, als einzige in der DDR.
Die Angst vor dem Antisemitismus Stalins ließ wenig später viele Erfurter Juden weiter gen Westen ziehen. Mit der Wende in den 1990er-Jahren kamen russische Juden nach Erfurt. Aktuell zählt die jüdische Gemeinde knapp 700 Mitglieder, die sich zu Gottesdiensten in der Synagoge treffen - unter Polizeischutz, da viele sonst Angst hätten zu kommen, sagt Schramm.
Mit Offenheit und Kulturfestivals möchte die Gemeinde Wissen über jüdisches Leben vermitteln und für gegenseitigen Respekt werben, damit das seit über 900 Jahren in Erfurt währende jüdische Leben eine Zukunft hat.
Links, Tipps, Praktisches:
Reiseziel: Erfurt ist die Landeshauptstadt Thüringens und zählt etwa 215.000 Einwohner. Die Altstadt mit den jüdischen Welterbestätten ist überschaubar, alles ist über das weitgehend noch mittelalterlich geprägte Straßennetz fußläufig erreichbar.
Anreise: ICE-Züge halten am Erfurter Hauptbahnhof. Die Reisezeit beträgt ab Hamburg etwa vier Stunden, ab Frankfurt/Main gut zwei Stunden und ab München zweieinhalb bis drei Stunden. Mit dem Auto ist Erfurt über die Autobahnen 71 und 4 zu erreichen.
Unesco-Welterbe: Informationen zum «Jüdisch-Mittelalterlichen Erbe in Erfurt» und jüdischem Leben darüber hinaus sowie Führungen, unter anderem in die Alte Synagoge, Kleine Synagoge und Mikwe unter erfurt-tourismus.de/unesco. Die Führungen sind im Eintrittspreis für die Alte Synagoge inbegriffen (8 Euro pro Person, ermäßigt 5 Euro).
Weitere Informationen: erfurt-tourismus.de; juedisches-leben.erfurt.de